Reisekrank

LIV CHARIS CHRISTELSOHN, 2020

Davu kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hat. Die Schatten halten ihn wach, bewegen sich, zischen wie Schlangen. Wenn er nicht aufpasst, kriechen sie ihm in die Ohren und winden sich um seine Gedanken, verwandeln lang vergessene Erinnerungen in heiße Fieberträume, aus denen er nur allzu gern erwachen mag. Aber die Schatten halten ihn, zwingen ihn zuzuschauen, wie seine Welt sich in aschgraue Wohlgefallen auflöst. Geschichte, Tradition, Heimat. Alles dahin. Und der eiserne Krieg um Freiheit ein völlig unbedeutender Funken im Feuer dieser zynischen Geschichte. Das hölzerne Gerippe des Nordturms, die letzte Bastion der Eisernen, zerfällt vor seinen Augen zu Staub und eine Welle der Traurigkeit überkommt ihn, bevor sie von einem noch stärkeren Gefühl verdrängt wird. 
Blanke, kalte Verzweiflung.
Er erträgt diese Verzweiflung nicht. Sie schlummert in seinem Inneren, flüstert leise und boshaft, mit spitzen Zungen, wie es auch die Schatten tun. Und sie wächst, er kann es spüren. Mit jeder Nacht, die er schläft, wird sie größer, zerrt ihn aus, nimmt ihn ein. Sie wuchert in seinem Brustkorb, bleischwer und bitter. Er schwitzt, wälzt sich in den alten Laken und das Atmen fällt ihm schwer. In manch mondloser Nacht hat er Angst um seine Lunge, hat Angst, dass sie unter der Last einfach kollabieren könnte.
Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hat.
Die Schatten lachen ihn aus, sie piesacken ihn wie die Banditen der schwarzen Wälder es mit den Klassenlosen tun, die in die Wildnis gebracht und dort zum Sterben zurückgelassen werden. 
Faye sagt, es komme von den Reisen. Die Schatten würden sich nicht bewegen, nicht sprechen. Sie seien nur ein Hirngespinst, das er selbst an die Wände ihrer dürftigen Bleibe projiziert. Aber können die Hände, die ihm nachts über die Stirn streichen, wirklich nur Einbildung sein? Er hat nie derart fantasiert. Es ist so unglaubwürdig. 
Andererseits ist er auch noch nie zuvor gesprungen.
Die Sprünge würden seine Fantastereien auslösen, sagt Faye. 
Deine Moleküle zerfallen und setzen sich an einem anderen Ort neu zusammen, der menschliche Körper ist das nicht gewohnt, von der Psyche ganz abgesehen. Es ist wie Reiseübelkeit. Nur schlimmer. 
Manchmal lacht Faye in unpassenden Momenten. 
Wenn er ihr von den Schatten erzählt und was sie ihm zu säuseln, wie sie sich um ihn winden und fest zusammenziehen, als wollten sie ihn im Schlaf erdrosseln. Sie lacht, wenn er fragt, wie sein Gehirn derart parasitäre Albträume erfinden kann? So verlogen echt, so greifbar grausam. Wie spinnt er sich diese bissigen Fieberträume selbst zusammen, in denen er die schlimmsten Tage seines Lebens wieder und wieder durchstehen muss? Wie soll der Ursprung all diesen Übels nur er selbst sein? Ist das nicht viel zu leicht, viel zu banal?
Er weiß keine Antwort, also glaubt er Faye nicht. 
Nein, es ist alles ganz anders. 
Und die Schatten sind so echt wie die Narbe in seiner linken Handfläche, wie die Sprünge, die ihm die Übelkeit in den Magen treiben. 
Die Schatten sind echt, ja. 
Faye lacht, als hätte er etwas unsagbar komisches gesagt. Dabei ist Davu gar nicht zum Lachen zumute. Er schluckt und reibt sich die immer trägen Augen. Die Schatten gleiten über die Wände und lachen auch, hämisches Dröhnen liegt ihm ihn den Ohren. 
Er kann nicht schlafen.
Er hat Angst. 
Werden die Wände enger? 
Ihr Zelt ist nur schwach ausgeleuchtet von der kleinen Öllampe, die in der Mitte des Raumes hängt, dort, wo alle Bambusstreben zusammenlaufen. Darüber spannt sich die alte Regenplane, die Faye selbstredend von irgendeiner Mülldeponie aufgesammelt hat. Die Plane hat fünf Einschusslöcher, fast kreisförmig angeordnet. Wenn es regnet, wird das Wasser, das hindurch sickert, in einem kleinen Metalltopf aufgefangen und zum Trinken verwendet.
Davu hat lange nichts getrunken und er hofft auf Regen. 
Er könnte auch zum Fluss laufen. Aber der liegt eine halbe Stunde Fußmarsch von ihrem kleinen unscheinbaren Camp entfernt und er hat Angst einem Banditen zu begegnen. Mehr noch als er Angst vor den Schatten hat. Deshalb beklagt er sich auch nicht über das entsetzlich schwache Licht der Öllampe, in deren Schein sich alle klare Konturen verlieren, wenn man nur lang genug hinschaut. Da Davu nicht schlafen kann, hat er seine Augen sehr, sehr lang nicht mehr geschlossen. Seine Umgebung gleicht einem feuchten Aquarellgemälde, Fayes Gesicht ist nur ein heller Tupfen in der Dunkelheit. Aber so kann man ihr Camp im Unterholz zumindest nicht sofort entdecken. Kein verräterisch greller Schein einer Taschenlampe kann sie verraten. Sie sind fast unsichtbar, verschwinden mit ihrer dunkelgrünen Regenplane und dem schummrigen Lampenlicht im dichten Blattwerk der umstehenden Büsche und Bäume. 
Davu schmeckt den Rauch der letzten Jahre auf der Zunge und die Schatten flüstern. 
Er möchte nicht mehr springen. Selbst wenn die Schatten nicht echt sind, er kann den Unterschied zwischen Traum und Realität kaum mehr unterscheiden und mit der Zeit wird es ihn wahnsinnig machen, das weiß er. Faye sagt, er solle sich nicht so anstellen. Jedem würde es anfangs dreckig gehen. 
Springen ist Gewohnheitssache. Wir müssen in Bewegung bleiben. Auf einer Linie zu lange ausharren, nun, das bedeutet den sicheren Tod. 
Faye sagt viele Dinge, die Davu nicht versteht. Er fragt sich manchmal vor wem genau sie überhaupt auf der Flucht sind, aber das kann Faye ihm nicht sagen. Er sei nicht bereit.
Wann bin ich bereit, fragt Davu und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Faye deutet an die Zeltwand. Die Regenplane knistert im Wind und die Schatten zucken noch unruhiger als sonst. 
Sobald du die Schatten nicht mehr siehst. Sobald du keine Angst mehr hast, sie könnten dir in den Kopf kriechen und mit deinen Gedanken spielen. Erst dann kann ich es dir sagen.
Davu hat auch Angst vor Faye. 
Nur manchmal, wenn sie ernst wird und ihr Lachen versiegt. Sie starrt nachts in die züngelnde Flamme der Öllampe und die Schatten tanzen auf ihrem Gesicht. 
Auch sie schläft nicht. Aber sie hat das Jagdmesser an sich gepresst, wacht über ihr kleines Lager. 
Sie braucht keinen Schlaf. 
Ihre Augen folgen manchmal ganz kurz den zitternden Bewegungen der Schatten, so wie Davu sie sieht und er fragt sich, ob sie ihn anlügt. Ob man die Schatten wirklich irgendwann nicht mehr als Gefahr wahrnimmt, ob sie irgendwann wirklich aufhören sich zu winden wie Schlangen und ihm zuflüstern, er solle das Jagdmesser nehmen und es einfach beenden. Das Leid, die Fieberträume, die Tage des Horrors, die sein Kopf in Dauerschleife wieder und wieder durchgespielt. 
Vielleicht gewöhnt man sich auch nur an all das, lernt, damit zu leben. 
Oder man schläft nie mehr wirklich. Immerzu erschöpft, immerzu ausgelaugt und voller Furcht. Jede Nacht starrt man in das Licht, um der Dunkelheit zu entkommen. Ja. Faye macht ihm Angst, die Wahrheit in ihren Augen, die so müde sind wie seine eigenen, macht ihm Angst. 
Und Davu ist müde.
So schrecklich müde.