Der Wolkenwal

LIV CHARIS CHRISTELSOHN, 2021

Sie erinnert sich an die Wolken. Wie sie sich drehen und verwirbeln, Formen und Geschichten bilden, wie sie watteweiße Wiegenlieder an den Himmel malen. Bis sie schließlich wieder auseinanderdriften, um Platz für etwas Neues zu schaffen. 
Die großen Leute scheinen nicht oft in den Himmel zu schauen. Sie verpassen all die Wunder, weich und sanft, direkt über ihren Köpfen. Sie verpassen die Tiere, die dort oben leben, wie sie einander im Wind jagen, ihre Form verlieren und neue Konturen annehmen.
Elefanten, die sich durch einen kräftigen Windstoß als aufgeregte Mäuseschar zerstreuen, schlanke Giraffen, die sich zu stämmigen Bäumen verformen und stolze Löwen, die sich in eitle, pelzige Katzen verwandeln. 
Sie träumt davon, zu fliegen und ihre Hände knöcheltief in die Wolken zu graben, sie träumt davon, langbeinige Giraffen zu streicheln und auf stolzen Löwen durch den klaren blauen Himmel zu reiten. 
Sie träumt viel, seit die Tage länger geworden sind und ihre Medikamente gegen die Schmerzen neu eingestellt wurden. Trotzdem betäuben sie den heißen, feurigen Druck direkt hinter ihrer Stirn nur bedingt. Sie starrt an die Krankenhausdecke, ganz weiß und faserig sieht sie aus. Langweilig, denkt sie frustriert und vergräbt ihren Kopf in dem steifen Kissen, das immerzu frisch gewaschen riecht, aber auch so, als gehöre es nirgendwo hin. Für sie ist es fremd, ein nichtssagender Geruch. Zu Hause riechen ihre Laken nach dem Lavendel-Parfüm ihrer Mutter, nach Schokolade und der Nachbarskatze, einem einäugigen, gruselig aussehenden Jungen namens Walter, der eigentlich gar nicht so gruselig ist. Er frisst ihr getrocknetes Dörrfleisch direkt aus der Hand und schläft manchmal mit in ihrem Bett.  Sie vermisst ihn. Und sie vermisst ihre Laken, den Geruch von Zuhause. 
Sie träumt davon, auf den Wolken spazieren zu gehen und auf die Erde hinunter zu schauen, all die großen Leute nur winzige Flecken, die wie Ameisen oder etwas noch Kleineres aussehen. Sie erzählt von ihren Träumen, erzählt den Krankenschwestern und auch den Ärzten davon. Sie alle lächeln sanft, aber da ist diese unterschwellige Traurigkeit, die hinter ihren Augen verweilt. Sie kann es spüren und sie weiß, dass die großen Leute versuchen, ihre Gefühle zu verstecken. Sie sind schon sehr seltsam manchmal. Und sie sagen seltsame Sachen.
Wolken sind nur Wasser, sagen die großen Leute zum Beispiel. 
Aber sie ist ein kluges Mädchen. Sie weiß über den Wasserkreislauf Bescheid, weiß, wie sich die Meere aufheizen und in den Himmel verdunsten, wie das Wasser in kalter Luft kondensiert und Wolken bildet. Aber was bedeutet das schon?
Walter ist auch eine unheimliche Katze weil er nur drei Gliedmaßen und ein stechendes grünes Auge besitzt und zugleich ist er kein bisschen unheimlich, weil er schnurrt und schmust und ihr aus der Hand frisst. Können Wolken also nicht Wasser und trotzdem etwas völlig anderes sein?
Die großen Leute lachen über ihre Argumente und streicheln ihr über den Kopf, wie man es bei einem treuen Hund tut, aber sie verstehen es nicht. Und vielleicht wollen sie es auch gar nicht verstehen.
Der Schmerz in ihrem Kopf wird stärker, und der Sommer zieht ein. Das Krankenhauszimmer füllt sich mit dem süßen Duft von blühendem Holunder und Lavendel. Es fühlt sich an, als würde ihre Mutter sie den ganzen Tag lang umarmen, und sie schläft viel und ruhiger als je zuvor.
Ihre Träume werden immer lebhafter. Zum ersten Mal kann sie die Wolken unter ihren Fingerspitzen spüren und sie sind so weich, wie sie es sich immer vorgestellt hat, fast wie die kuschelige Baumwolldecke, die sie als Kind immer bei sich trug. Die Tiere sprechen mit ihr. Das haben sie vorher nie getan, aber sie ist so überwältigend glücklich, dass sie es jetzt tun. 
Ein Löwe erlaubt ihr, auf seinem Rücken zu reiten und dann spielt sie Fangen mit einer Handvoll freudig quiekender Mäuse. Sie streichelt sogar zum ersten Mal eine Giraffe, die ihre langen, eleganten Beine anwinkelt und sich zu ihr herunter beugt. Wir wollen dir jemanden vorstellen, sagt die Giraffe und klimpert mit ihren langen Wimpern. Wer ist es, will das Mädchen fragen, aber es klingt so, als wäre das eine Überraschung, also schweigt es lieber. 
Sie gehen eine ganze Weile, durch Watte-Wälder und Täler, sie sieht grasende Büffel und sogar Mammuts, Stegosaurier und große vogelähnliche Kreaturen, die sie auch aus Dinosaurierbüchern kennt, deren Namen sie aber vergessen hat. Sie laufen, bis es nur noch Wolken gibt, sie kann nicht einmal mehr den Himmel sehen. Alles Blau ist verschwunden. Jetzt ist da nur noch kuscheliges Weiß, soweit das Auge reicht.  Da wären wir, sagt der Löwe feierlich und schiebt seinen Kopf unter ihre Hand. Sie krault ihn hinter den Ohren, bis er schnurrt, wie Walter das manchmal tut. Und dann passiert es.
Ein Geräusch nähert sich, es klingt wie Wellen, die mit unbändiger Kraft an die Küste schlagen. Lauter und lauter und dann ist es für einen kurzen Moment so laut, dass ihre Ohren zu klingeln beginnen. Und während sie sich ihre Hände gegen die Ohren presst, um sie vor dem Lärm zu schützen, erhebt sich ein riesiger – riesiger – Wal aus dem Wolkenmeer vor ihr. Er ist größer als alles, was sie je gesehen hat. Und seine Augen sind so weit und dunkel, dass sie unweigerlich an bodenlose schwarze Ozeane denken muss. Erst bei genauerem Hinsehen sieht sie das Licht, sieht, wie es in ihnen tanzt, als würden seine Augen in ihrer Dunkelheit alle Sterne des Universums beherbergen.
Der Wal beginnt zu sprechen, langsam, mit Bedacht, und seine Stimme hallt von überall her wider, fast so, als wäre der ganze Himmel in ihm, als hätte er alle Wolken verschluckt und auch sie selbst und nun ist seine sanft brummende Stimme allgegenwärtig. Es könnte ziemlich unheimlich sein, aber sie hat keine Angst. Der Wal spricht über die Wolken und die Tiere und über Krankenhäuser und große Menschen, über Schmerz und Leben. Und natürlich über den Tod, denn der gehört einfach zum Leben dazu. Doch seine Worte entgleiten ihr sofort wieder, gehen ihr kaum durch den Kopf. Irgendwie versteht sie es nicht und gleichzeitig versteht sie es doch. Der Wal ist sehr weise, viel weiser als alle großen Leute zusammen, denkt sie. Und er ist alt. Sie glaubt, dass er das älteste Wesen ist, das sie je getroffen hat. Er muss schon durch diese Lüfte geschwebt sein, lange bevor die Zeit überhaupt erfunden wurde. Als würde er seit Anbeginn existieren, was auch immer das bedeuten mag. 
Und er unterbreitet ihr einen Vorschlag. 
Das Leben verschwindet nicht einfach, es reist weit, weit weg, sagt der Wal. Es sucht sich irgendwo in den Tiefen dieses Universums eine neue Bestimmung. Aber nicht alles Leben. Manche bleiben lieber. Vor allem die Kleinen. Die Menschen und Tiere, die die Erde viel zu früh verlassen müssen. Sie mögen es, sich noch ein wenig um ihre Liebsten zu kümmern. Um ihre Familie und Freunde und ihre dreibeinigen Katzen.  Sie möchten gern ihr altes Zuhause im Auge behalten, damit es immer nach Schokolade und Liebe riecht, und nicht nach Trauer. 
Du kannst auch hierher kommen, kleines Wesen. Nur wenn du willst, natürlich. Wenn sich der Schmerz aus deinem Kopf in deinem Körper ausbreitet und in deinen Knochen festsetzt. Wenn du diese langweilige Krankenhausdecke nicht mehr sehen kannst. Die großen Leute werden dir nicht böse sein, das verspreche ich. Und bitte sei auch nicht böse auf sie. Obwohl sie dich nicht verstehen können. Sie wissen einfach nicht mehr, wie es ist, klein zu sein. Das ist alles. Sie haben die Wesen vergessen, die hier oben leben, und sie interessieren sich nicht für die Geschichten, die mein Reich ihnen darbietet, weil sie verlernt haben, den Himmel zu lesen. Aber das ist schon in Ordnung. Ich schreibe meine Geschichten für die Kleinen, weißt du. Ich kümmere mich um sie. Die großen Leute können ja bereits für sich selbst sorgen. 
Sie hört aufmerksam zu, ist ganz leise dabei. Es ist eine schöne Idee, denkt sie sich. Hier bleiben zu können oder zumindest eines Tages wiederzukommen. Der Wal senkt seinen gewaltigen Unterkiefer, als würde er sie anlächeln, und sie streckt wie zum Gruß ihre winzigen Hände nach ihm aus. In dem Moment, in dem sie den Wal berührt, seine raue, warme Haut an ihrer eigenen spürt, überspült sie eine Welle aus Traurigkeit und Glück, Aufregung und Furcht, und alles auf einmal. 
Dann wacht sie auf.
Von nun an träumt sie diesen Traum jede Nacht. Und jedes Mal fragt der Wal, ob sie bleiben will. Die Ärzte kommen immer häufiger in ihr Zimmer und die Medikamente werden immer stärker dosiert. Der Schmerz kriecht ihr in die Lunge. Sie umarmt ihre Mutter jetzt jeden Abend ganz fest. Eines Tages kommt sogar ihr Nachbar zu Besuch und er hat Walter in einem großen Weidenkorb dabei. Sie weint ein wenig, während sie durch sein struppiges Fell streicht. Sein grünes Auge funkelt wissend. 
Es wird Herbst und die Fenster des Krankenhauses bleiben die meiste Zeit über geschlossen. Sie kann die Welt nicht mehr riechen. Der Geruch des Nichts klettert zurück in ihr Bett, hält sich ganz fest, an dem Stoff um sie herum. Ihr ist kalt und sie kann die Augen nicht offen halten, der Schmerz ist so unerträglich. Sie flüchtet in ihre Träume, wo riesige Wolkenwale durch den Himmel schweben, sie kann auf Löwen reiten und mit Mäusen spielen. Dort ist sie glücklich und der Schmerz kann sie nicht erreichen. Sie weiß nicht mehr, wann sie das letzte Mal die Krankenhausdecke gesehen hat, es fühlt sich an wie Wochen, vielleicht Monate. 
Sie erinnert sich an die großen Leute. Wie sie ihre Traurigkeit für sich behalten und wie sie wissen, dass Wolken nur Wasser sind. Wie sie Häuser und Karrieren aufbauen, wie sie Jobs für große Leute machen und mit den Stimmen großer Leute sprechen. Wie sie leben. Bis sie es nicht mehr tun, um Platz für etwas Neues zu schaffen. 
Sie geht an den Rand der Wolken, schaut hinunter auf die Erde, all die großen Leute nur winzige Flecken, die aussehen wie Ameisen oder etwas noch Kleineres. Sie scheinen nicht oft in den Himmel zu schauen. Sie verpassen all die Wunder, weich und sanft, direkt über ihren Köpfen. Aber sie kann es sehen, sieht es alles. Ihre Mutter und Walter und ihr Zuhause und die freundlichen Ärzte und Schwestern und das Krankenhausbett. 
Sie fasst einen Entschluss.
Es ist der erste Tag des Winters und die Fenster sind mit gefrorenen Blumen bemalt. Sie schlüpft ohne Mühe aus dem Bett, so als ob sie schwerelos wäre. Eine Wolke, die sich auf den Boden verirrt hat. Sie gehört nicht mehr hierher, denkt sie. Ihre Mutter schläft auf dem Stuhl neben ihrem Bett und hält die Hand eines Mädchens, das nicht mehr da ist. 
Sie öffnet das Fenster. Und natürlich ist er gekommen und hat geduldig auf sie gewartet. 
Es ist schön, dich endlich kennenzulernen, sagt er. Seine Stimme ist so brummend und weich wie in ihren Träumen. Er verkündet hoheitsvoll, Wolken mögen nur Wasser sein, aber ich verspreche dir, wenn du jetzt auf meinen Rücken kletterst, lasse ich dich niemals fallen und auch meine Wolken nicht, kleines Wesen.

Und so tut sie es.